Hier finden sich Kommentierungen zu unterschiedlichen demokratie-, sozial-  und rechtspolitischen Fragestellungen aus Lernprozessen, die er (siehe oben) ) mir ermöglicht hat.

 

Schattenboxen in der Sozialwirtschaft

 

 

Am 24./25.3.2020 streiken Beschäftigte der Sozialwirtschaft nach nunmehr sieben Verhandlungsrunden zum SWÖ-KV neuerlich, um den zentralen Punkt ihrer KV-Verhandlungsforderungen, nämlich die Durchsetzung der 35-Stunden-Woche, durchzusetzen. In der Sache selbst haben die Gewerkschaften fraglos recht in ihrer Argumentation, dass eine ganze Reihe von Dienstleistungen der Sozialwirtschaft von hohen physischen und psychischen Belastungen bei gleichzeitigem Personalmangel gekennzeichnet ist. 

Ein Konsens über ein Stufenmodell zu einer über mehrere Jahre hinweg gestaffelten Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich zeichnet sich bereits ab. Ob dieser „voll“ sein wird, steht dahin. Die dabei entstehenden Lücken werden durch eine Arbeitsverdichtung, also eine Intensivierung der Arbeit oder eine Ausdehnung des Beschäftigungsvolumens kompensiert werden müssen. 

Ersteres endet wie das Hornberger Schießen: kürzer zu arbeiten, dafür  aber intensiver, ändert wenig an der Arbeitsbelastung. Zweiteres führt zu höheren Lohnkosten. Denn eine 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich entspricht im Schnitt einem Lohnkostenzuwachs von 8,6%, wenn die nun nicht mehr geleisteten Stunden durch zusätzliche Beschäftigte kompensiert werden müssen. 

Indes stellt sich der Sozialminister eine Halbe-Halbe-Lösung vor, nämlich alternierend ein Jahr Lohnerhöhung, dann ein Jahr Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnerhöhung. Die „Arbeitgeber“ haben bereits eine 37-Stunden Woche im Abtausch mit Veränderungen der Arbeitsbedingungen angeboten. 

Unerheblich welches Stufenmodell gewählt wird: jede Arbeitszeitverkürzung erhöht die Lohnkosten der Sozialdienstleistung. Gegenwärtig sind bis zu 90% der Kosten der Sozialwirtschaft Lohnkosten. 85% davon trägt die öffentliche Hand unter Einschluss des Pflegegeldes als steuerfinanzierte „Annexleistung“ zur Pensionsversicherung. 

Seit dem BAGS-KV ist der KV der Sozialwirtschaft ein absurd anmutendes Konstrukt: es verhandeln einerseits sich als „Arbeitgeber“ bezeichnende Organisationen, welche in der SWÖ organisiert sind, die allerdings in einer Monopson-Konstellation einem öffentlichen Nachfrager gegenüberstehen. Dieser gibt Quantität, Qualität, Entgelte/Preise und Verrechnungsbedingungen vor. Er regelt und beschränkt den Marktzugang im stationären Bereich hoheitlich. Er schreibt Leistungen nach Belieben vielfach ohne nachvollziehbare Qualitätskriterien aus, was Prozess-, Ergebnis- und Beziehungsqualität der Sozialdienstleistung betrifft. Er übt eine minutiöse Gebarungskontrolle über die betriebswirtschaftliche Gestion der Unternehmen aus. Und er exekutiert eine Fachaufsicht über die Träger, welche substantiell nichts weiter darstellt als eine Gebarungskontrolle der Wirtschaftlichkeit der Leistung. Im Ergebnis schultern die Träger das wirtschaftliche Risiko, finden sich aber in der Rolle von bevormundeten Erfüllungsgehilfen der öffentlichen Hand wieder. 

Es verhandeln andererseits ArbeitnehmerInnen, vertreten durch Vida und GPA, wobei insgesamt acht Kollektivverträge der Sozialwirtschaft in Österreich existieren. Zwar ist vielfach die Rede von der Sozialwirtschaft als „Branche“, eine einheitliche gewerkschaftliche Branchenvertretung aber findet nicht statt. So haben etwa die Caritas, die Diakonie oder das rote Kreuz einen eigenen Kollektivvertrag. Der BABE-Kollektivvertrag (Private Bildungseinrichtungen) liegt im Niveau knapp 10% unter dem SWö-KV-Niveau. 

Schließlich findet die Sache ohne den Wirt, nämlich 9 Bundesländer, statt, ergänzt durch 15 Statutarstädte, die ihrerseits Sozialdienstleistungen zukaufen. Diese sind gesetzlich nicht angehalten, in ihren Entgelt- und Preisvorgaben auf den jeweilig in den sozialwirtschaftlichen Unternehmen geltenden KV Bezug zu nehmen. Tatsächlich gibt es Bundesländer, welche den SWÖ-KV in ihren Tagsätzen nicht zur Abbildung bringen. Relevant für die Frage nach der Risikolastverteilung ist auch, dass der Großteil der sozialen Dienste nicht auf einem Rechtsanspruch beruht, sondern im Rahmen der Privatwirtschaftsverwaltung finanziert wird. Zudem weisen die meisten freien Träger nur kurzfristige Leistungsverträge auf, genießen also weder Bestands-, Finanzierungs- noch Planungssicherheit.

Eine Einigung über die Frage der 35-Stunden-Woche ohne die (Sozialressorts der) Bundesländer ist daher unmöglich. Nur sagt das niemand, weil sich die sog. „Arbeitgeber“, die dies allenfalls arbeitsrechtlich, nicht aber ökonomisch sind, ideologisch in ihr Selbstbild als markt-kompetitive UnternehmerInnen verstrickt haben. Die allseits herumgereichte „Sozialmanagement“-Rhetorik, die Sozialdienstleistungen als Produkte versteht und damit vollkommen am coproduzierten, vertrauensbasierten und unschlüssigen Charakter der Sozialdienstleistung vorbeigeht, macht das mehr als deutlich. Auf der anderen Seite mengen sich die Bundesländer nicht proaktiv ein, um im Weiteren defensiv auf ihre austeritätspolitischen Maßgaben verweisen zu können. Erstaunlich bleibt das Verhalten der Gewerkschaften, die sog. „Arbeitgeber“ zu attackieren, obwohl sie wissen müssen, dass die Kosten letztlich gerade im Bereich der Pflege, wo so gut wie keinerlei Eigenleistungen der Träger als Leistungserbringer möglich sind, überwiegend aus öffentlichen Mitteln stammen. 

Es wäre also an der Zeit, die „Lock-In“-Situation des als Schattenboxen ausgestalteten Arbeitskampfes zu überwinden und einige grundsätzliche Fragen zu stellen, etwa jene nach der Institutionengarantie von sozialen Diensten in den Materiengesetzen, nach einem Rechtsanspruch der Hilfebedürftigen, nach der gesetzlichen Determinierung der mehrdimensionalen Qualität von Diensten, nach mittelfristiger Bestands- und Planungssicherheit oder nach einem die realen Kosten bedeckenden Normkostenmodell. Hierzu müssen die Bundesländer mit am Tisch sitzen, zumal sie ja einer Vorhalteverpflichtung nachzukommen haben, also die soziale Daseinsvorsorge jenseits der Sozialversicherung dem Grunde nach gewährleisten müssen. 

 

 

Sozialwirtschaft weiterdenken. Frauenhäuser zwischen Marktideologie und Qualitätssicherung

2020 

 

Der Konflikt rund um die Beendigung der Finanzierung von Salzburger Frauenhäusern (Stadt, Tennengau) mittels Subventionen sowie die Überführung in einen auf einem Vergabeverfahren beruhenden Leistungsvertrag macht einige sozialpolitische Leerstellen im Machtkonflikt um die öffentliche Kontrolle von Frauenhäusern und die sozialanwaltliche Vertretung betroffener Frauen deutlich.

Bekanntlich schafft die 2014 die Istanbul-Konvention („Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ völkerrechtlich verbindliche Rechtsnormen gegen Gewalt an Frauen und sieht effektive Schutzmaßnahmen im Bereich Hilfe und Betreuung vor. 

Der GREVIO-Evaluationsbericht über Österreich rügte, dass Maßnahmen nicht vollständig den Vorschriften eines koordinierten Ansatzes zur Prävention und Bekämpfung aller Formen von Gewalt gegen Frauen entsprechen. Der NGO-Schattenbericht rügte die bundesländerspezifisch unterschiedlichen Finanzierungsmodelle und empfahl ein gesetzlich verankertes Finanzierungsmodell für Frauenhäuser basierend auf mindestens Dreijahresverträgen.

Gegenwärtig aber sind Frauenhäuser in § 22 Sbg SHG aber noch immer nicht verankert. Sie genießen keine Institutionengarantie und werden im Rahmen der Privatwirtschaftsverwaltung des Landes auf jährlicher Basis gefördert. Gesonderte Förderrichtlinien hierzu existieren nicht. Ein Rechtsanspruch auf diese Leistung besteht nicht.

 

An dieser Stelle ist eine Perspektivenerweiterung angezeigt:

Zum ersten erklärt die zuständige Landesrätin, eine Auschreibung von Leistungsverträgen zur Führung von Frauenhäusern sei zwingend. Dies ist aber nur dann zutreffend, wenn man zuvor alle anderen Möglichkeiten der Trägerschaft und Finanzierung aus ideologischen Erwägungen ausblendet. Die Erwägung, sich Sozialdienstleistungen nur als wettbewerblichen Anbietermarkt unter staatlicher Aufsicht vorstellen zu wollen greift zu kurz. Möglich wäre nämlich auch, gerade wenn man das Subventionsmodell ausschließt, Frauen einen Rechtsanspruch auf die Leistung zu gewähren und Frauenhäuser im Rahmen eines Subjektförderungsmodells zu finanzieren, in dem Frauen über ihren Verbleib selbst entscheiden, während die öffentliche Hand die Verpflichtung trifft, entsprechende Einrichtungen und Plätze vorzuhalten. Eine gänzlich andere Herangehensweise bestünde darin, Frauenhäuser als öffentliche Einrichtungen zu betreiben, die in der Trägerschaft einer Gemeinde stehen. Träger der öffentlichen Hand könnten auch ein Joint Venture begründen und ein Frauenhaus als nicht-vergabepflichtiges „Inhouse-Geschäft“ finanzieren. Eine Ausschreibung ist also nicht zwingend durchzuführen. Sie wird hier nur eben politisch gewollt. Das klar zu sagen wäre ein Gebot politischer Integrität.

 

Ein zweiter Aspekt betrifft die geplante Ersetzung von geschützten Plätzen in Frauenhäusern durch dezentrale Schutz- oder Übergangswohnungen, ohne gesetzlich Qualitätskriterien zu verankern. Hier wäre der Gesetzgeber gefordert, den Einrichtungen Standards, Bestands- und Planungssicherheit zu gewährleisten. Aus sozialarbeiterischer Sicht macht das zudem auch nur dann Sinn, wenn in diesen dezentralen Einrichtungen dasselbe Schutz- und Betreuungsniveau genießen wie ein Frauenhaus. Das aber wäre nur mit einer massiven Budgetausweitung zu erzielen, was dem Budgetpfad des Landes zuwiderläuft.

 

Ein dritter Aspekt bezieht sich auf die Ausschreibung selbst, wo die zuständige Landesrätin verblüffenderweise ankündigt, eine Expertenrunde darüber beraten zu lassen, ob eine Auftragserteilung in einem Volumen von 1,2 Mio/Jahr europaweit auszuschreiben ist. Sie kann sich die Runde sparen. Für 2020 muss ab 214.000 € europaweit ausgeschrieben werden. Der Punkt ist vielmehr, ob ein Frauenhaus eine nicht-wirtschaftliche Dienstleistung darstellt. § 9 Ziff 18 BVergG 2018 zufolge wären Dienstleistungsaufträge über nichtwirtschaftliche Dienstleistungen von allgemeinem Interesse überhaupt von der Anwendung des Gesetzes ausgenommen. Allerdings hält der Leitfaden der Europäischen Kommis­sion zur Vergabe von Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse (SWD(2013) 53 final/2) fest, dass jede gegen eine Vergütung erbrachte Dienstleistung als wirt­schaftliche Tätigkeit gilt. Die Wirtschaftlichkeit der Tätigkeit resultiert aus drei Subkriterien (Markt, Entgeltlichkeit, potentielle Gewinnerzielungsabsicht) in einem beweglichen System. Auch gewinnorientierte Unternehmen können den Betrieb eines Frauenhauses anbieten. Bereits das potentielle Vorhandensein eines Marktes spricht für die Wirtschaftlichkeit einer Tätigkeit. Dem EuGH zufolge muss die Dienstleistung nicht unbedingt von denjenigen bezahlt werden, denen sie zugutekommt, weshalb auch die öffentliche Hand als Zahler auftreten kann, doch muss der Erbringung dieser Leistung eine wirtschaftliche Gegenleistung gegenüberste­hen, was beim Betrieb eines Frauenhauses unzweifelhaft der Fall ist. 

 

Die eigentlich entscheidende Frage ist also, unter welchen Bedingungen ausgeschrieben wird. Hier liegt der Hase im Pfeffer. Denn die zuständige Landesrätin hat augenfällig selbst gar kein Konzept, sondern erwartet sich einen Wettbewerb, ohne vorweg nach Preis und Qualität zu gewichten, ohne selbst Eignungs-, Auswahl- und Zuschlagskriterien unter Einschluss vergabefremder Kriterien zu formulieren. Es muss indes sozialpolitisch unverständlich bleiben, warum ein Ressort, welches im Weiteren den Preis diktiert über gut dotierte Planungsressourcen verfügt, nicht in der Lage ist, sich auf einen Bestbieterwettbewerb einzulassen und die Qualität einer Sozialdienstleistung (einschließlich Sprachkompetenzen, Rechts- und Systemkenntnissen, regionaler Verankerung, Vertrautheit mit soziokulturellen Gegebenheiten) transparent zu definieren. Dann nämlich könnten die bestehenden Einrichtungen realistisch abgewogen Leistungskonzepte anbieten.

 

 

Rechtsstaat - nur wenn´s nicht politisch sensibel wird ?

2017

Sowohl die Anmutung, man solle tausenden TürkInnen aufgrund einer vermuteten Doppelstaatsbürgerschaft die Österreichische Staatsbürgerschaft entziehen, als auch die Einlassung politischer Funktionäre, es handle sich um eine sensible Angelegenheit, die man durch Kulanzregelungn und Verfolgungsverzicht meistern solle, zeugen von eigenartiger Rechtsferne und demokratiepolitischer Verwahrlosung.

Dem Vernehmen nach hat eine Reihe von TürkInnen die Staatsbürgerschaft der Türkei zurückgelegt, um sodann die Österreichische erwerben zu können, um im Nachhinein neuerlich die Türkische wieder annehmen zu können. Hierzu besagt § 27 Abs 1 StbG, dass die Staatsbürgerschaft verliert, wer auf Grund seines Antrages, seiner Erklärung oder seiner ausdrücklichen Zustimmung eine fremde Staatsangehörigkeit erwirbt, sofern ihm nicht vorher die Beibehaltung der Staatsbürgerschaft (ausdrücklich) bewilligt worden ist. 

Anders verhält es sich, wenn die Türkische Staatsbürgerschaft beibehalten und aus welchen Gründen auch immer trotzdem die Österreichische verliehen wurde. In diesem Falle ist einem Österreichischen Staatsbürger die Staatsbürgerschaft gem. § 34 Abs 1 StbG nur dann zu entziehen, wenn er sie vor mehr als zwei Jahren verliehen erhalten und aus Gründen, die er/sie zu vertreten hat, eine fremde Staatsangehörigkeit beibehalten hat. Nach Ablauf von sechs Jahren nach der Verleihung (Erstreckung der Verleihung) ist die Entziehung allerdings nicht mehr zulässig. 

Allerdings hat eine Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 69 Abs 1 Z iff1 AVG von Amts wegen zu erfolgen. Dies ist dann vorgesehenl, wenn der Bescheid zur Verleihung der Staatsbürgerschaft durch die Fälschung einer Urkunde, ein falsches Zeugnis oder eine andere gerichtlich strafbare Handlung herbeigeführt oder sonstwie erschlichen wurde. Eine Wiederaufnahme ist auch nach Ablauf von drei Jahren nach Erlassung des Verleihungs-Bescheides angezeigt. Lehre und Judikatur zufolge ist die Entziehung der Staatsbürgerschaft selbst sechs bzw. sieben Jahre nach Verleihung nicht unverhältnismäßig.

Es ist also unerheblich, ob ein politischer Konsens über die Vorgangsweise, wie mit der Authentizität der Listen, in denen 45.000 TürkInnen mit Geburtsdatum vor 1997 mit illegaler Türkisch-Österreichischer Doppelstaatsbürgerschaft umgegangen werden soll, vorliegt. Hinlänglicher Anhaltspunkt für die amtswegige Einleitung eines Wiederaufnahmeverfahrens zur Entziehung der Staatsbürgerschaft ist vielmehr das Vorliegen einer persönlichen Identifikationsnummer, welche die Türkische Staatsbürgerschaftsbehörde ihren Staatsbürgern zuordnet. 

Dem Staatsbürgerschaftsrecht ist Geltung zu verschaffen. Dass man ohne Wissen Doppelstaatsbürger sein kann ist bloße Schutzbehauptung. Alle Eingebürgerten werden entsprechend informiert. Voraussetzung der Verleihung einer Staatsbürgerschaft ist ohnehin das Beherrschen der Deutschen Sprache. 

Zugleich ist die Rede von der Handlungsunfähigkeit der Staatsbürgerschaftsbehörden angesichts „verdeckter Doppelstaatsbürgerschaften“ ein Märchen: wird ein Wiederaufnahmeverfahren eingeleitet, so ist die Partei zur Mitwirkung verpflichtet. Es kann ihr also aufgetragen werden, entsprechende Beweismittel beizuschaffen. 

Vorgesehene Rechtsfolge der unterlassenen Mitwirkung ist deren Beurteilung im Rahmen der freien Beweiswürdigung, wobei öffentliche Urkunden (Türkisches WählerInnenzeichnis mit persönlicher Identifikationsnummer) vom Grundsatz der Gleichwertigkeit der Beweismittel ausgenommen sind. Ein mündliches Parteienvordringen wird die Beweiskraft einer öffentlichen Urkunde (WählerInnenverzeichnis) nicht aufwiegen.

 

Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob jene eingebürgerten ÖsterreicherInnen, die als (religiöse) Funktionäre und Vertreter von Lobby-Gruppen die Österreichische Integrations-Politik gegenüber Türkischen ImmigrantInnen erfolgreich ramponiert haben, nicht gem. § 33 StbG als Staatsbürger zu behandeln sind, die im Dienst eines fremden Staates stehen. Diesen ist die Staatsbürgerschaft zu entziehen, wenn sie durch ihr Verhalten die Interessen oder das Ansehen der Republik erheblich schädigen. Überhaupt gilt: wenn sich Österreichische Staatsbürger aus eigenem Antrieb an einem Referendum zur Abschaffung der Demokratie in der Türkei beteiligen und dortselbst mit 73,2% für ein ´Ja` stimmen, stellen sich die berechtigten Fragen, was diese ImmigrantInnen als nunmehrige StaatsbürgerInnen in einer demokratischen Republik wollen und ob man sie nicht wie alle anderen Anhänger autoritärer Ideologien und Regime auch als Staatsfeinde wahrnehmen muss, welche eine demokratische Gesellschaftsordnung ablehnen. 

 

Migrationsmanagement zwischen rechtem Internationalismus und linkem Nationalismus ?

2017

 

 

Der rechte (neoliberale, antietatistische) Internationalismus der Europäischen Markteroberung hat die Entwicklung einer vierten Säule (Sozialstaat) in der EU verhindert. Er hat zugleich durch Privatisierung, Vermarktlichung und Verwettbewerblichung die Handlungsspielräume des nationalen Sozialstaates reduziert oder zerstört. Nach Jahrzehnten der Erosion der sozialen Daseinsvorsorge sind heute die Ressourcen des sozialen Wohnbaus und öffentlichen Wohnungs und Bildungswesens erschöpft. Zugleich soll das sinkende Arbeitsvolumen bei sinkenden Löhnen auf eine wachsende Zahl von Anbietern der Arbeitskraft verteilt werden. Der Keynesianische Verteilungskonsens wurde erfolgreich aufgekündigt. Die WählerInnen-Schafe haben ihre Schlächter gewählt.

 

Die sich von sozialen Abstiegsszenarien bedroht fühlenden Subalternen der oberen Unterschicht und unteren Mittelschicht reagieren auf das von ihnen gewählte hegemoniale Verteilungsprojekt der Plutokraten und ihrer Dienstklassen paradoxerweise mit nationalistischen Reflexen, in denen Immigration als Bedrohung des sozialen Zusammenhaltes problematisiert wird. 

 

Fakt ist: auch in Österreich nimmt die Ungleichheit der Einkommens- und Vermögensverteilung drastisch zu. Der Finanzmarktcrash hat einen ´Bürgerkrieg von oben` als Gramscianischen Bewegungskrieg ausgelöst, in dem die Grundlagen der sozialen Daseinsvorsorge erschüttert werden. Mieten werden unleistbar, Wohnungs- oder Hauseigentum rückt selbst für Doppelverdienerhaushalte der unteren und mittleren Mittelschicht in unerreichbare Ferne. Die untersten 2 Dezile haben in den letzten 20 Jahren 20% ihres Nettoeinkommens verloren. Ganz ohne Migrationsdynamik seit der Krise 2015 waren 2015 18,5% der Österreichischen Bevölkerung armutsgefährdet, arbeitsmarktfern oder manifest arm. Ggw gibt der Staat knapp 100 Mrd Euro für Soziales aus. Davon entfallen auf Wohnen und soziale Ausgrenzung brutto (also ohne Regresse) gerade mal 2,3 Mrd. Und selbst das ist den politischen Eliten zu viel, wie die verfassungswidrigen Kürzungsstrategien in der Bedarfsorientierten Mindestsicherung zeigen.

 

Wollte man Armut in Österreich entlang der EU-SILC-Armutsschwelle beseitigen, müsste man (Daten 2015) den 1,55 Mio Betroffenen, die eine durchschnittliche Armutslücke von knapp 22% aufweisen, 255 Euro monatlich oder 3.066 Euro jährlich zuschießen und damit 4,75 Mrd Euro finanzieren. Man müsste also das gegenwärtige Ausgabenniveau verdreifachen. Das entspricht dem Ertrag einer progressiven Vermögenssteuer (0,7%-1,5%) bei einem Freibetrag von 1 Mio Euro netto.

 

Für atypisch Flexibilisierte und prekär Qualifizierte lohnt Lohnarbeit kaum noch, vielmehr noch, als Immigration ein steigendes Arbeitsangebot am Arbeitsmarkt nach sich zieht. Ohnehin waren 90% der seit 2002 neu hinzugekommenen KlientInnen der Mindestsicherung ErgänzungsleistungsbezieherInnen. Diese stellen heute knapp 78% aller KlientInnen der Mindestsicherung, sind also erwerbstätig oder beziehen Arbeitslosengeld/Notstandshilfe. Knapp 37% der Lohnabhängigen zahlen keine Lohnsteuer mehr. Ihr Haushaltseinkommen setzt sich überwiegend aus Transferleistungen zusammen. Eben diese fürchten um ihre wohlfahrtsstaatliche Subsistenz. Zu recht ?

 

Auch wenn die unprofessionelle und von anti-integrationistischen Politikmustern reaktionärer Regime in Polen, Ungarn etc. geprägte Europäische „Bewältigung“ der Flüchtlingskrise zu Recht kritisiert wird; auch wenn man die Entwicklung rechtspopulistischer und rechtsextremer, die kapitalistischen Klassenverhältnisse übertünchender Stereotype von AfD über Le Pen, Wilders und FPÖ zu Recht rügt: sämtliche Indikatoren der sozialen und kulturellen Lage der „BürgerInnen" (?) der überwiegend muslimisierten Parallel-Gesellschaft (700.000 Muslime 2017) zeigen, dass der leistende und gestaltende Wohlfahrtsstaat bereits vor der Flüchtlingskrise 2015 ff. von der sozialen Problemlast ungesteuerter Migration völlig überfordert war (und ist). 

 

Das Bild der sozialen Probleme reicht von fehlender/unzureichender Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Gesundheitspräventionsbeteiligung über prekäre Wohnverhältnisse, massive Sprach- und Sozialisationsdefizite bis hin zu Praktiken der häuslichen Gewalt oder der Zwangssexualisierung unmündiger Minderjähriger durch Kopftücher. Die Integrations- und Inklusionsleistungen des Bildungssystems, der Arbeitsmarktförderung sowie der Regulierungen am Wohnungsmarkt waren unzureichend. Das zeigen etwa die Belegs-Daten von Frauenhäusern, der Anteil der ImmigrantInnen an "School-Drop-Outs“ und NEET oder die 220 ÖsterreicherInnen, die vielfach noch minderjährig in den IS-Djihad gereist sind.

 

Die Flüchtlingskrise hat diese Situation weiter zugespitzt. Im AMS-Kompetenz-Check 2016 konnten überhaupt nur 30% der Flüchtlinge eine Bildungsqualifikation nachweisen. Mündlich behauptet wurde von 23% ein abgeschlossenes Studium, von weiteren 27% Matura. Die Dt. Bundesanstalt für Arbeit erhob indes bei 8% der Flüchtlinge eine akademische Qualifikation, bei weiteren 11% eine berufliche Ausbildung. 81% der Flüchtlinge können demnach keine formale Qualifikation vorweisen. Dass dies plausibler als die Österreichische Beschwichtigungsberichterstattung ist zeigt die hohe Arbeitslosigkeit unter den seit 2015 anerkannten AsylwerberberInnen, die niedriger Erwerbseinkommen (selbst wenn man diskriminatorische Praktiken am Arbeitsmarkt berücksichtigt) sowie der hohe ´take up` von Bedarfsorientierter Mindestsicherung.

 

Das Management von Migration ist keine Moralfrage, sondern eine soziotechnische und budgetäre Frage. Dabei geht es entgegen dem Integrations-Geplapper tatsächlich um soziale Inklusion, also materielle, soziale und kulturelle Teilhabe. Jedes Konzept des Management von Immigration muss evidenzbasiert erfolgen. Und zu recht muss man fragen, wie belastbar bestehende Systeme der Daseinsvorsorge sind. Interessen der lohnabhängigen Subalternen im ggw. sozial- und wohlfahrtsstaatlichen Verteilungskonflikt als reaktionär abzutun, wenn die Spielanordnung erwerbsarbeitszentrierter sozialer Sicherung unverändert beibehalten wird, geht am Punkt vorbei. 

 

Auch der Verweis auf Moral bzw. Toleranz, Völkerrecht (Genfer Konvention) oder Gemeinschaftsrecht führt nicht weit. Denn Moral ist als soziale Praxis eine Klassenfrage. Toleranz ist zwar als Schwester der Meinungsfreiheit ein Fundament der Bürgerlichen Gesellschaft. Toleranz gegenüber jenen aber, welche die Bürgerliche Gesellschaft zerstören wollen, ist suizidaler Irrsinn. Natürlich kann man sich als Linker eine Systemtransformation wünschen und deren Not abwendenden Charakter begründen. Die Situation aber ist wie sie ist. Die Flüchtlingskonvention ist längst totes Recht. Zumal die Mehrzahl der als „Flüchtlinge“ Apostrophierten Wirtschafts- und nicht Konventionsflüchtlinge sind, die aufgrund der langen Verfahren, die verworrene Rechtslage nutzend, eben jahrelang von Arbeit und sozialer Teilhabe ausgeschlossen bleiben.

 

Dass die Gewaltbelastung einschließlich sexueller Übergriffe unter AsylwerberInnen und ImmigrantInnen derart hoch ist hat eben nicht nur mit dem Islam als misogyner, machistischer und rassistischer Ideologie, sondern auch mit der Nicht-Integration und Nicht-Inklusion der Täter zu tun. Wie also kann und soll die Inklusion von ImmigrantInnen funktionieren ?

 

Zuerst sollte man komplizierten Triebfedern und Mechanismen der Migrationskrise verstehen. Der von der USA im Kalten Krieg erfundene, mit den Saudischen Wahhabiten und Golf-Öl-Profiteuren co-finanzierte Islamfaschismus hat die Zahl der weltweit Flüchtenden auf 60 Mio hinaufgetrieben. 90% der Flüchtenden kommen aus Islamischen Gesellschaften (Syrien, Irak, Sudan, Jemen, Afghanistan, Iran, Pakistan, Somalia, Marokko, Nigeria usw.). Nachdem IWF, Weltbank, Banken, multinationale Agrochemie- und Agrarkonzerne als Reaktion auf die antikolonialistischen Befreiungskriege der 1960er Jahre in der Schuldenkrise seit Beginn der 1980er Jahre hunderte Millionen mithilfe des Washington-Consensus von ihren subsistenzwirtschaftlichen Grundlagen abgeschnitten haben, treibt nun der Klimawandel diese Millionen nach Norden, nach Europa. Wie schwer kalkulierbar die Zahlen auch sein mögen - in den nächsten 30 Jahren machen sich zumindest 900 Mio Menschen aus dem nahen und mittleren Osten, aus Afrika und dem  auf den Weg: immer der Arbeit, Nahrung, Trink-Wasser und Obdach nach; weg vom Verhungern und Verdursten, weg von islamischen Sklavenhaltern, Schlächtern und Militärdikaturen. Wenn sie es denn durch die Hölle von Mali, Niger und Lybien zum nächstbesten Schlepper-Mafioso geschafft haben, ertrinken sie entweder im Mittelmeer oder landen in den Ruinen der Europäischen Abstiegsgesellschaft, die sich bei 133 Mio Erwerbstätigen 124 Mio Arme, 20 Mio offiziell Arbeitslose, 12 Mio Working Poor, 22,5 Mio Niedriglöhner und 20 Mio informell Beschäftigte leistet. Hier bilden sie erheblichenteils den Bodensatz einer sozial abgehängten Unterschicht, in der Religion, Misogynie, Familie-Clan-Ideologien, Antisemitismus und Rassismus als Identitätskrücke genutzt werden. Vielfach gewählte Exit-Option ist der Umstieg in die organisierte Kriminalität. Das organisierte Verbrechen  in Europa - sieht man einmal von den kriminellen (verurteilten) Geschäftspraktiken von Großbanken ab -  besteht beinahe ausschließlich aus Immigranten. Dieses sind die sozialen Kosten des Kapitalozän und das Erbe des Europäischen Kolonialismus, komplettiert durch die knapp 180 militärischen und Interventionen der USA seit dem ersten Mexiko-Krieg 1806.

 

 

Das Management dieser genozidalen Vertreibungspolitik  in einem durch Austeritäts-, Privatisierungs- und Vermarktlichungspolitiken massiv erschütterten Sozial- und Wohlfahrtsstaat, der im Wesentlichen Senioren und Kernklientelgruppen statusreproduktiv absichert, ist ohne Paradigmenwechsel unmöglich. Kontrafaktisch aber nehmen - nicht nur hierzulande, sondern europaweit - Unternehmerverbände die Migrationskrise zum Anlass, erfolgreich auf die Reduktion von Löhnen und die Verschlechterung von Arbeitsbedingungen zu drängen, Asylwerber und subsidiär Schutzberechtigte zu entgeltlosen Tätigkeiten heranzuziehen, was  ihnen die Mindestsicherungs-Gesetzgeber ermöglichen. In der Tat hat die  Zahl der Mindestsicherungsbezieher 2012  - 2015 von 256.405 auf 284.370 um 11% zugenommen. Knapp 17% sind Immigranten; ihr Anteil nahm alleine 2014-2015 um 44% zu. Jede weitere sozial ungesteuerte Immigration wird in Österreich zu Belgischen oder Französischen Zuständen führen: zu einer Parallelgesellschaft religiös fanatisierter Unterschichtmilieus, deren Langzeitarbeitslose mit Mindestsicherungsbezug ihre Zeit in Moscheen und vor dem Bildschirm totschlagen, wo sie sich Indoktrinations- und HInrichtungvideos ´reinziehen`.

 

Das Elend der Hängematten-Ideologie

2016

 

Der NEO´s-Abgeordnete Schellhorn (Bad Gastein) rechnet uns einen Mindestsicherungsbezug für 2015 in Höhe von 35.000 € netto für einen „Flüchtling“ samt Frau und 4 Kindern in Wien vor. Diese vorliegende Annahme unterstellt, dass beide Elternteile das gesamte Jahr über arbeitslos sind, weil sie es sich in der „Hängematte“ der Mindestsicherung bequem machen. Das aber ist wie zu zeigen sein wird gar nicht möglich. 

 

Hat nämlich der „Flüchtling“ bereits als Hausmeister abhängig sozialversicherungspflichtig beschäftigt gearbeitet so kann er nur ein Asylberechtigter sein.  Er ist damit wie ein Staatsbürger zum Bezug von Sozialleistungen berechtigt.  Kündigt der Asylberechtigte bei Hotelier Schellhorn und zieht samt Familie nach Wien so ist er für 4 Wochen vom Arbeitslosengeld gesperrt. Er hat abstrakt Anspruch auf eine monatliche BMS-Leistung. Diese beträgt je 620,87 € für ihn und sein Frau. Wenn die Kinder alle minderjährig und einkommenslos sind, stehen 223,51 € je Kind, also 894,04 € zu. Das ergäbe einen rechnerischen Anspruch der Familie in Höhe von maximal 2.135,78 € zwölf mal im Jahr, also 25.629,36 €. 

 

Diesem Anspruch ist das eigene Einkommen gegenzurechnen. Gem. § 14 Wr MSG muss der Vater die eigene Arbeitskraft auf zumutbare Weise einsetzen, wobei die Regeln des ArbeitslosenversicherungsG gelten. Wären alle 4 Kinder im betreffenden Kalenderjahr älter als 3 Jahre, so wäre auch die Mutter zur Lohnarbeit verpflichtet. Nehmen wir das aber nicht (!) an, weshalb die Mutter im vorliegenden Beispiel (noch) nicht zum Einsatz der eigenen Arbeitskraft verpflichtet, ist. Nehmen wir aber auch an, dass eines der vier Kinder als mündiger Minderjähriger eine Lehre absolviert, eins die Volks- und eins die neue Mittelschule besuchen, das jüngste noch nicht den Kindergarten besucht.

 

Nun wird der BMS-Bezug monatlich bemessen. Der Vater muss generell seine Arbeitskraft einsetzen, entweder einer Arbeit nachgehen oder sich einer Maßnahme zur Verbesserung seiner Vermittlung am Arbeitsmarkt unterziehen. Dies wird von ihm bereits bei Antragstellung auf BMS bei Androhung einer Sanktion abverlangt. Tut er das nicht, so wird seine BMS-Leistung nach erfolgter Ankündigung stufenweise gekürzt. Dabei sind der Judikatur zufolge nur zwei Stufen vorgesehen. Gesetzlich zulässig wird die Leistung jedenfalls im 3. Monat um 25% auf 465,65 € gekürzt. Bereits ab dem 4. Monat ist die zweite Stufe erreicht, auf der eine Kürzung um 50% auf 310,43 € zulässig und vorgesehen ist. Weigert er sich fortgesetzt bzw. beharrlich seine Arbeitskraft einzusetzen oder an arbeitsintegrativen Maßnahmen teilzunehmen so ist bereits ab dem 5. Monat ein Totalentfall seiner BMS-Leistung zulässig. Damit ist für den arbeitsunwilligen Asylberechtigten im laufenden Jahr bestenfalls einen Anspruch in Höhe von  maximal 2.017,82 € und nicht wie von Schellhorn behauptet 7.450,44 € ausgewiesen. 

 

Der Alleinverdienerabsetzbetrag in Höhe von 1.109 € steht einem Arbeitslosen gem. § 33 Abs 4 EStG nicht zu. Hier irrt Schellhorn.

 

Wenn nun eines Kinder  bereits eine Lehre absolviert und mit seiner Lehrlingsentschädigung den maßgeblichen Mindeststandard überschreitet fällt es aus der BMS-Berechnung heraus, schuldet aber den Eltern keinen Unterhalt. Die BMS-Leistung für die Kinder beträgt dann nicht 10.728,48 €, sondern 8.046,36 €.

 

Fragwürdig ist Schellhorn´s Annahme, ein durchgehend Arbeitsloser würde rechtsansprüchlich bewehrt einen Kinderabsetzbetrag in Höhe von 2.803,20 € /Jahr lukrieren. Denn nur Steuerpflichtigen denen Familienbeihilfe gewährt wird steht gem. § 33 Abs 3 EStG  - liest man das Gesetz und  nur dieses - mit der Familienbeihilfe ein Kinderabsetzbetrag von monatlich 58,40 € für jedes Kind zu. Selbst wenn es Usus ist, dass Personen, die ausschließlich bedarfsgeprüfte Transferleistungsbezüge (Mindestsicherung; Notstandshilfe)  lukrieren, als "Steuerpflichtige" gefasst werden und ihnen tatsächlich ein Kinderabsetzbetrag gewährt wird, findet sich keine klare gesetzliche Regelung hierzu.  Im vorliegenden Beispiel werden für 4 Kinder im Übrigen nicht 6801,64 € sondern 6.108 € Familienbeihilfe bezogen.

 

Schellhorn „Rechnung“(spolemik) geht also nicht auf. Es besteht kein jährlicher Transferleistungsanspruch auf 36.343,20 €, sondern auf 26.435,82 €, wovon im gewählten Beispiel unter Berücksichtigung der zwingend vorgesehenen Sanktionen 17.514 € aus Mitteln der BMS rühren. Da fehlen immerhin 9.907,38 €/Jahr. 

 

Von Interesse ist freilich nicht Herrn Schellhorns mangelnde Rechtskenntnis sondern die soziale Lage des Haushaltes nach (!) BMS-Bezug. EU-SILC zufolge lag 2015 die Armutsschwelle für den Alleinstehenden bei 1.161 €, 12 mal jährlich. Der äquivalisierte Bedarf des gegenständlichen Haushaltes (Vater: 1,0; Mutter und Lehrling: je 0,5; 3 Kinder unter 14 je 0,3) liegt bei 2,9. Die in Geldwert bemessene Armutsschwelle des vorliegenden Haushaltes liegt damit bei 3.366,90 € / Monat bzw. 40.402,80 €/Jahr. Die maximal zu gewährende Mindestsicherung (25.629,36 €) liegt also 14.773,44 €/Jahr unterhalb der Europäischen Armutsschwelle. Würde man die Armutsschwelle mit einem Warenkorb berechnen (Referenzbudget), so läge die Schwelle für die 6-köpfige Familie im Fallbeispiel bei 53.424 €. Das BMS-Standard ist 27.794,64 €/Jahr davon entfernt. Wie man daher auf die Idee kommen kann die BMS sei eine „Hängematte“ bleibt unverständlich.

 

Selbst wenn der Asylberechtigte als Hausbesorger arbeiten würde, wäre er zum BMS-Bezug berechtigt. Dem Mindestlohntarif für Hausbesorger folgend würde er etwa im Alter von 48 Jahren bei Vollzeitbeschäftigung (39,5 Stunden) und 20 Jahren Berufserfahrung durchschnittlich ein Bruttojahreseinkommen von 26.554 € lukrieren. Unter Berücksichtigung des Alleinverdienerabsetzbetrages wären das 20.374,64 € / Jahr oder 1.697,66 €/Monat (x12). Mit diesem Einkommen läge er 214,61 € unterhalb des zugestandenen monatlichen Bedarfs (Mindeststandards) in Höhe von 1.912,27 € (x12).  Selbst mit seinem Einkommen würde er nur knapp die Hälfte der EU-SILC-Armutsschwelle seiner Familie lukrieren. 

 

73% der MindestsicherungsbezieherInnen gehen einer Arbeit nach. Der Rest ist chronisch krank, beeinträchtigt oder den Arbeitgebern zu alt. Die gesellschaftspolitische Herausforderung liegt als nicht in einer Mindestsicherung, die Armut allenfalls lindert aber nicht beseitigt und die brutto (noch vor Einnahmen) ohnehin nur 0,7% des Österreichischen Staatsbudgets ausmacht (mit den 19 Mrd € Rettungskosten der Ktn Landes-Hypo könnte man 30 Jahre BMS für 250.000 Menschen auf demgegenwärtigen Niveau finanzieren). Das Problem sind die niedrigen Löhne, die hohen Wohnkosten, die unzureichend ausgestatteten Kinderbetreuungsangebote, und natürlich: eine Stellenandrangquote von 1:20 bei einer Arbeitslosigkeitsbelastung von 480.000 Menschen. Vielleicht sollte man besser mal darüber nachdenken als den zwangsprekarisierten 256.000 Mindestsicherungsbeziehern „nachzutreten“.Und vielleicht denkt Herrn Schellhorn darüber nach, warum sein Hausmeister ein Dasein als repressiv-beamtshandelter Mindestsicherungsbezieher den Arbeitsbedingungen in seinem Unternehmen offensichtlich vorzieht.

 

BMS-Reform: Klassenkampf von oben

2016

 

2014 wurden Statistik Austria zufolge 673 Mio € brutto seitens der Bundesländer für die Mindestsicherung  aufgewendet. 2011 waren noch es 440 Mio € gewesen. Das entsprach knapp 0,7% des Österreichischen Budgets. 256.000 Personen in 152.839 Haushalten bezogen 2014 durchschnittlich 2.628 € an BMS-Leistungen, was 219 € pro Monat entsprach. Pro Bedarfsgemeinschaft (zumeist: Familie in einem Haushalt) waren es 4.403 €. 64% der Unterstützten beziehen BMS länger als 6 Monate, 20% länger als 1 Jahr.

 

2010 wurde eine Bund-Länder-Vereinbarung gem. Art 15 a B-VG beschlossen, welche das letzte soziale Netz wesentlich repressiver ausgestaltete als dies bei der Sozialhilfe der Fall war. Nunmehr entfielen nur mehr 25% des Mindeststandard als Pflichtleistung auf die Wohnkosten, sodass heute knapp 210 € für Miete zur Verfügung stehen. Die Leistung wird seither nur mehr 12 und nicht mehr wie die Sozialhilfe 14 mal pro Jahr ausbezahlt. Die Zumutbarkeitsbestimmungen zum Einsatz der eigenen Arbeitskraft wurden jenen der Notstandshilfe angeglichen und damit massiv verschärft. Die Sanktionsdrohungen wurden ausgeweitet, sodass nunmehr die Leistung im Regelfall schrittweise auf 50% und im unbestimmten Einzelfall auf Null reduziert werden kann. Etwa 16.000 Sanktionen werden ggw. pro Bundesland im BMS-Bereich verhängt; davon entfallen (in etwa) auf Wien 7.900, auf Oö 1.260, auf Nö 1.600, auf Sbg 800. Detailanalysen der Judikatur der Landesverwaltungsgerichtsbarkeit zeigen, dass sich Leistungskürzungen auf Null nicht bloß sporadisch sondern häufig ereignen. 

2014 waren in Österreich gemäß Definition der Europa-2020-Strategie 1,609 Mio Menschen armuts- und ausgrenzungsgefährdet. Das waren 19,2% der Gesamtbevölkerung. Darunter waren 14,1% armutsgefährdet, 4,0% erheblich materiell depriviert und 9,1% arbeitsmarktfern (keine/geringe Erwerbsintensität). Diese Daten beruhen auf der EU-SILC-Armutsgefährdungsschwelle, 1.161 € im Jahr 2014. Das der Lebensrealität der abhängig Erwerbstätigen am nächsten kommende warenkorb-basierte Referenzbudget (Miete und BK, Nahrung, Hygiene, Bekleidung; kein Auto, kein Urlaub, keine Suchtaufwendungen) lag 2014 hingegen bei 1.358 €. Die Mindeststandards der BMS in den Bundesländern lagen wiederum bei nur zwischen 827 € und 910 € für die alleinunterstützte Person (838 € im Schnitt).  Der monatliche BMS-Anspruch lag 2014 sohin 500 € unterhalb  des Referenzbudgetwertes und 300 € unterhalb der EU-SILC-Armutsschwelle. In Österreich lebten zugleich 24 €-Milliardäre und 114.200 US-$-Millionäre.

 

2000-2014 haben dem ÖIF zufolge 310.000 Personen um Asyl angesucht, 57.222 bzw. 18,4% haben Asyl zuerkannt erhalten. Im selben Zeitraum erhielten 19.291 Personen subsidiären Schutz. Während die Anträge 2000-2007 in der Tendenz rückläufig waren weisen sie seit 2008 steigende Tendenz aus. Die Zahl der Anerkennungen blieb 2000-2013 unter 5.000 p.a. 2014 wurden dem BMI zufolge 28.064 Asylanträge gestellt; in 5.751 Fällen wurde Asyl und in 1.999 Fällen subsidiärer Schutz gewährt. Bei knapp 27.000 Asylentscheidungen entsprach dies einer Anerkennungsquote von 39%.  01-11/2015 wurden indes 81.127 Asylanträge gestellt.

 

12/2015 waren 475.435 Menschen in Österreich „ohne Job“ (+6,1% im Vgl. zu 2014). Damit nahm die Arbeitslosenquote in Österreich auf 10,6% zu (EU-Definition : 5,7%). Die durchschnittliche Höhe des Arbeitslosengeldtagsatzes lag 2014 bei 29,4 €, jene des Notstandshilfetagsatzes bei 23,6 €. 164.000 Personen bezogen Notstandshilfe, die Hälfte weniger als 25 €/Tag bzw. 750 €/Monat.

 

Zugleich verdienten 25% der Unselbständigen weniger als 1.277 € umgelegt auf 12 Monate (unter Berücksichtigung des 13./14. Monatsgehaltes), 10% weniger als 721 €. Wurde teilzeit gearbeitet, so erreichten 25% der davon betroffenen Erwerbstätigen eine Einkommenshöhe von 656 € umgelegt auf 12 Monate nicht. 1995-2012 verlor das unterste Quintil der Lohnsteuerpflichtigen 34% seines Einkommens (Rückgang von 2,9 auf 1,9% der erwirtschafteten Einkommen), während  das oberste Quintil seinen Anteil von 44,4% auf 47,6% aller erwirtschafteten Einkommen steigerte.

 

Niedriglohnbezüge, Working Poor, atypische Beschäftigungsformen, geringe Arbeitslosengeld- und Notstandshilfebezüge steigern den Druck auf das sozialrechtliche Mindestabstandsprinzip. Ohnehin aber waren 2014 73% der BMS-BezieherInnen zwischen 15 und 64 bereits Ergänzungsleistungsbezieher. Es macht also in der BMS wenig Sinn, die Zwangsprekarisierten unter ceteris-paribus-Bedingungen in die Lohnarbeitsmühle zu verweisen. Sie sind erheblichenteils schon dort. Auch die  exzessive Handhabung geltender Sanktionsbestimmungen bei „mangelnder Mitwirkung und Arbeitswilligkeit“ führt nicht weit. Bei knapp 110.000 Sanktionen gem. § 10 AlVG (totaler Leistungsentfall) und 16.000 Sanktionen im BMS-Bereich macht sich ohnehin niemand mehr Illusionen. Zugleich nimmt die Zahl der „aussichtslosen Überflüssigen“ zu. Vor allem Ältere, gesundheitlich Eingeschränkte und Geringqualifizierte  zählen zu den 146.100 Langzeitarbeitslosen und zu einem Drittel ohne „Placement“-Perspektive. Knapp 10%der BMS-BezieherInnen zwischen 15 und 25 Jahren in Wien waren 2015 nicht beim AMS gemeldet.

 

Die Arbeitgeberseite und ihre politische Dienstklasse (ÖVP) beklagen habituell angeblich zu hohe Sozialausgaben bzw. zu geringe Anreize der Arbeitsaufnahme. Vor dem Hintergrund der ´Gunst der Stunde` („Flüchtlingskrise“) setzt die ÖVP auf Grundlage eines Vorschlags des ÖAAB (!) daher schrittweise in den Länder massive Verschärfungen der BMS gegen die untersten 3% der Bevölkerung durch. Diese verfolgen drei Ziele: ersten die Reduktion des Leistungsniveaus, zweitens die Verschärfung der Kontrolle und Zumutbarkeitsbestimmungen sowie drittens die Reduktion der Zahl  potentieller Antragsteller im BMS-System. Alle drei erhöhen den Druck, Arbeit zu jeglicher Bedingung anzunehmen. 

Das erste Ziel wird durch die Deckelung aller (!) Transferleistungen (inkl. BMS) auf  1.500 pro Monat/Haushalt ungeachtet der Zahl der Kinder umgesetzt. Der Mindeststandard soll nicht mehr als Orientierungswert sondern als „Deckel“ einer maximal möglichen Leistung gelten. Vorgesehen werden soll eine verpflichtende Umstellung auf Sachleistungen für Wohnen, Essen und Energie zumindest im Verhältnis 50:50. Geldleistungen sollen nach einem Jahr um 25% ungeachtet aller Arbeitswilligkeit reduziert werden, wenn jemand keine Beschäftigung findet. Zugleich sollen Leistungen für anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte von 914 € (Oö) auf 320 € reduziert werden.

 

Das zweite Ziele wird durch eine Erhöhung der Auflagen und Mitwirkungspflichten (sanktionsbewehrte Pflicht zum Besuch von Integrationsmaßnahmen, Deutsch- und Wertekursen) sowie eine Ausweitung der Sanktionen umgesetzt.

 

Das dritte Ziel wird durch ein „Asyl auf Zeit“ und je nach Bundesland durch den Ausschluss von subsidiär Schutzberechtigten aus der Mindestsicherung (und ihren Verweis auf die Grundsicherung) erreicht. Während in Oö noch diskutiert wird hat Nö bereits die subsidiär Schutzberechtigten vom BMS-Bezug ausgeschlossen.

 

Das Ziel all dieser Bemühungen liegt unverstellt offen: es geht um die Etablierung eines Niedriglohnsektors in Österreich. Dass man dabei gegen die Genfer Konvention, die EU-Statusrichtlinie, die bestehende Art 15a-Vereinbarung zur BMS und das Landesverfassungsrecht verstößt – wen kümmert´s ? Der herrschende Block an der Macht hat längst die Option extralegaler Herrschaft in´s Auge gefasst.

 

 

Schwankend am Abgrund

2015

 

Wir stehen an einem Wendepunkt der Geschichte. Austerität hat nach der Weltwirtschaftskrise 1929 schon einmal in Faschismus und Massenmord geendet. Sie hat von 1991, dem Vertrag von Maastricht, bis heute in der EU 125 Millionen Arme, 41 Mio Niedriglöhner (17% der 243 Mio Erwerbspersonen), 19 Mio Working Poor (8,2%) und  unfassbare 14 Mio NEET (Not in Employment, Not in Training) hervorgebracht. 90 Mio prekär Beschäftigte gibt es in Europa, das sind mehr als ein Drittel aller Beschäftigten. Beinahe die Hälfte der Ein-Personen-Unternehmen ist armutsgefährdet. 

 

Vorläufiges Ergebnis dieses Bürgerkriegs ´von oben` der Reichen und ihrer politischen Dienstklassen sind das ökonomische und soziale Auseinanderfallen der Europäischen Gesellschaften, eine  rasch wachsende Zahl von Personen, die sich völlig aus dem politischen System (Wählen ?) verabschiedet haben und eine Radikalisierung der (neuerdings auch: religiösen) Rechten. Die Folgen für das Gemeinwesen sind fatal. Den obersten 10%, die sich von der Finanzierung öffentlicher Aufgaben, insbesondere der staatlichen Daseinsvorsorge, völlig verabschiedet haben, stehen am unteren Ende der Gesellschaft 40% gegenüber, die in unterschiedlicher Weise kaum noch zum Gemeinwesen beitragen können und von öffentlichen Transfers-, Sach- und Geldleistungen abhängig sind. 30% erhalten aus dem Sozial- und Wohlfahrtsstaat, was sie zuvor eingezahlt haben. Und nur 20% der Erwerbsbevölkerung sind Netto-Zahler des sozialen Daseinsvorsorge.

 

Die Finanzkrise 2007 war Ergebnis einer 35-jährigen neoliberalen Deregulierung der Finanzmärkte und des Finanzkapitals. Das Platzen der Immobilienblase 2008 war Auslöser einer Bankenrettung, für welche alleine die EU-Staaten 2009-2013 3,2 Billionen € aufgewendet haben, die direkt an die Banken geflossen sind, die andernfalls konkursiert wären. Die öffentliche Hand hat sich für die Bankenrettung massiv verschuldet. Insgesamt haben die Länder der EU mit Bürgschaften und Finanzbeihilfen einen Finanzrahmen von insgesamt 5,1 Billionen €, das sind 40% des Europäischen Bruttoinlandprodukts, gespannt. Noch immer sind 1.000 Mrd € an faulen Krediten in den Bilanzen der Banken in der Eurozone nachweisbar. Das Geld, mit dem die öffentliche Hand die Banken gerettet hat, hat sie in Form von Staatsanleihen bei eben jenen Banken aufgenommen, die sie zugleich gerettet hat. Die Banken verdienten also dreifach: (a) während der Immobilien- und Aktienspekulationswelle der 00´er Jahre, (b) durch die Übernahme ihrer Verluste und (c) durch die Verleihung von Krediten an die durch die Bankenrettung verschuldeten Staaten. Die EZB ist hierbei unverschämter Beitragstäter. Anstatt Geld direkt an die Staaten zu begeben sind die Geschäftbanken zwischengeschaltet, um an der Malaise, die sie produziert haben, zu verdienen.

 

Zugleich ist die Europäische Verschuldungsarchitektur eine vielschichtige. So stehen 72% der Deutschen Staatsanleihen, die von europäischen Banken gehalten werden, in den Büchern Deutscher Banken. Im Falle Frankreichs und der Niederlande sind es 67%. Hier haben die Staaten noch indirekten Einfluss auf die Institute; Kreditrückzahlungen fließen in das BIP.  In Österreich verhält sich der Fall instabiler und wesentlich riskanter: hier hält der Österreichische Finanzsektor nur 21,1% der gesamtstaatlichen Verbindlichkeiten (48 Mrd €); 14,3% davon entfallen auf die österreichischen Banken (32,6 Mrd €). Dominante Gläubiger der Republik Österreich sind folglich vor allem die  internationalen Finanzinstitute. 

 

Bezahlen müssen Schulden und Zinsen europaweit die ArbeitnehmerInnen durch Kürzungspakete und sinkende Löhne im Rahmen der Austeritätspolitik.  Deren Credo lautet, dass die öffentliche Hand und die Privathaushalte gleichzeitig sparen müssen. Daher sinken die Löhne in der EU seit 2009 jährlich durchschnittlich um 0,5% (Range: -7,5% Griechenland, -6,1% Portugal; -2,5% Irland; +2,7% Bulgarien, + 1,7% Schweden, + 1,2% Österreich). Trotz dieser Sparpolitik steigt die Staatsverschuldung aufgrund der abgerufenen Staatshaftungen für Bankpleiten weiter an. Alleine die Deutschen Banken brauchten bis 2013 646 Mrd € als Hilfsrahmen in der Finanzkrise. 259 Mrd € nahmen sie in Anspruch. Bislang 50 Mrd € blieben bei jenen Bevölkerungsgruppen hängen, die überhaupt noch Steuern zahlen. Das Österreichische Bankenpaket kostete bis 2013 6,75 Mrd €. 2,33 Mrd € wurden als Einnahmen verzeichnet, sohin belaufen sich die Verluste bis dato auf 4,42 Mrd €. Bis 2017 werden weitere 5,4 Mrd € erforderlich werden.

 

Ohne eine substantielle Besteuerung von Vermögen und Schenkungen, ohne eine substantielle Besteuerung des Produktivkraftfortschritts und ohne eine substantielle Anhebung der Kapitalendbesteuerung ist die Situation für die öffentliche Hand aussichtslos. Denn die ohnehin fortwährend steigenden Lohn-, Einkommens- und Verbrauchssteuereinnahmen können letztlich die sinkenden Unternehmenssteuern und das Fehlen/Sinken der Vermögenssteuern bei gleichzeitigem Anstieg der Staatsverschuldung nicht kompensieren. Daher tragen die abhängig Beschäftigten zwar immer mehr zum Staatshaushalt, trotz aller Austeritätspolitik aber müssen die Staaten weiterhin Schulden aufnehmen. Alleine die Euro-Zone hielt 2014 bei 9 Billionen € Schulden alleine der öffentlichen Hand, 7 Billionen € davon in Wertpapieren. Das waren 93,9% des BIP. Die höchsten  Schuldenberge verzeichneten 2014 laut EUROSTAT Griechenland mit 174,1 % des BIP, gefolgt von Italien mit 135,6%. Alleine auf Deutschland entfielen 2,15 Billionen €, auf Italien 2,13 Billionen €, auf Frankreich 2,03 Billionen € und auf Spanien 1,02 Billionen €. Die EU-28 hielt bei 11,5 Billionen € Schulden.

 

Will man die Schulden abtragen, müssen nicht nur bislang unerschlossene Besteuerungsquellen genutzt werden. Es muss zudem auch ein Wirtschaftswachstum von 2% und das Inflationsziel von 2%  sichergestellt werden. Sämtliche neoliberalen Anwandlungen, Wachstum durch Steuersenkungen, Deregulierung, Liberalisierung und eine Erhöhung der Profitrate zu schaffen sind gescheitert. Trotzdem wird seitens der politischen Dienstklasse im Auftrag der Gewinner dieser Politik weitergemacht wie bisher: steigender privater Reichtum, zunehmende Ungleichheit, Arbeitslosigkeit und Armut spiegeln sich trotz austeritätspolitischen Grausamkeiten europaweit (wenngleich unterschiedlich) in steigender Staatsverschuldung: die Eurozone hält bei 87,3% Schulden im Verhältnis zum BIP. Die Maastrichtkriterien (60% Schuldenobergrenze) werden von PO, FL, SLO, DK, SK, LT, CZ, RU, BG und SWE erreicht. Eine positive Entwicklung der Staatsschulden findet sich überhaupt nur in SWE. Der Rettungsplan, der Staatsverschuldung Herr zu werden, ist absurd: denn damit Staaten ihre Schulden durch Wachstum finanzieren können werden: Bankenrettungspakete (!) seitens der Europäischen Zentralbank (EZB) geschnürt. Dabei pumpt die EZB im Rahmen des „quantitative easing“ beginnend mit 2015 eine Billion € (1.000 Mrd €) in die „Finanzmärkte“, indem sie den Banken Staatsanleihen, Pfandbriefe und Wertpapiere um 60 Mrd € pro Monat abkauft. Die Banken allerdings vergeben ihre neue Liquidität nicht als Kredit an Unternehmen, die sich in einer Kreditklemme befinden, damit diese produzieren, sondern in erster Linie an Investoren, die mit den nunmehr verbilligten Krediten Aktien und Derivate kaufen und damit an Börsen spekulieren.

 

Dieses Europa der Banken, institutionellen Anleger, Oligarchen und Plutokraten, abgesichert durch den Vertrag von Maastricht, schickt sich mit seiner Sparpolitik nun an, die Kopplung von Kapitalismus und Demokratie aufzuheben. Überall in Europa sinken die Wahlbeteiligungen, kommt es zu einer Polarisierung des Elektorates, entstehen rechtspopulistische und rechtsextreme Bewegungen, die sich auf verkehrte Weise an Migrationsströmen, nicht aber an Verteilungsfragen festmachen. Zugleich werden im Zuge der Bekämpfung des von der NATO hartnäckig und mit hohem Mitteleinsatz herbeigeführten islamo-faschistischen Terrors sukzessive bürgerliche Grundrechte eingeschränkt oder aufgehoben, entsteht ein „Sonderpolizeirecht“ ausgeweiteter Ermittlungskompetenzen, lückenloser Überwachung und präventiver Beamtshandlung.

 

Was darin droht und in Durchsetzung begriffen ist, ist ein autoritäres oder totalitäres politisches Regime in Europa. Dieses Regime wird gegenwärtig in Griechenland erprobt, so wie der Faschismus und Chile oder Argentinien das Labor für die neoliberale Gegenreformation der 1980er Jahre gewesen sind. Die Strategie der Institutionen (Troika) in der Umgestaltung Griechenlands in eine - von einem Regime im Auftrag der institutionellen Anleger autoritär regierte - Sonderwirtschaftszone ist klar erkennbar: die Souveränität einer ganzen Gesellschaft wurde aufgehoben. Eine Volksabstimmung in einem souveränen Staat als "Verrat" (Juncker, Chefmentor der Steuerhinterziehung multinationaler Unternehmen in Luxemburg) zu bezeichnen ist eine ebenso demagogische wie  totalitäre Diktion. Im Interesse der Banken, Aktionäre und Plutokraten wird seit 2009 diktiert, nicht mehr verhandelt, und vor allem: in den Medien gelogen, dass sich die Balken biegen. Wie Joseph Stiglitz zutreffend gesagt hat, hätte die Troika (Institutionen) allem zugestimmt, was der Griechische Ministerpräsident Tsipras vorgeschlagen hat, wären die Vorschläge von einer rechten NEA DEMOKRATIA - Regierung gekommen. So aber geht es darum, die Linke in Griechenland politisch zu vernichten, damit das politische System in Spanien, Portugal und Italien nicht kippt. Es geht, wie Naomi Klein festgehalten hat, nur noch um Macht und Geld. Anhaltend orakelt der Cheerleader der Austeritätspolitik, Wolfgang Schäuble, von einem GREXIT, einem Ausstieg Griechenlands aus der Eurozone. Trotzdem ist diese Strategie der Spannung (als Analogie zum Terror des „tiefen Staates“ der Geheimdienste in Italien 1969-1984) nicht aufgegangen: 61% Zustimmung zur Position der SYRIZA bei der Volksabstimmung am 5.7.2015 haben das verdeutlicht. 

 

Es geht um Macht und Geld, denn die herrschende Klasse in Europa weiß: fiele Griechenland aus der Eurozone und sollte es sich dann als souveräner Staat  mit Keynesianisch gestalteten Verteilungsverhältnissen und Außenwirtschaftsbeziehungen aus der ökonomischen Talsohle herausarbeiten, würden die übrigen ´Latin-Rim-Staaten` (Spanien, Portugal, eventuell Italien) folgen. Deutschland, nach 1945 Begünstigter der größten Entschuldungsaktion aller Zeiten und Hauptnutznießer des Marshall-Plans, verweigert eine Gläubigerkonferenz zur Restruktuierung der Griechischen Schulden, so lange man dem Griechischen Staat Kriegsmaterial verkaufen kann und Subalternen in Griechenland zur Begleichung der Spekulationsverluste Deutscher Banken und ihrer Aktionäre heranziehen kann. Die Kosten sind der herrschenden Klasse egal: 29% Arbeitslosigkeit, 69% Jugendarbeitslosigkeit, 27% ohne Sozialversicherung (2013), 45% der Rentner unter der Armutsschwelle, 34,6% unter der Armutsschwelle,  3,8 Mio akut armutsgefährdete Personen, 10.000e unterernährte und nicht mehr geimpfte Kinder, 20.000 Obdachlose, geschlossene Krankenanstalten. Die Säuglingssterblichkeit stieg seit 2008 um 43%. Die Zahl der Totgeburten, HIV-Neuinfektionen, Tuberkulose- und Depressionsfälle sowie Suizide explodiert: 2009-2012 stieg die Zahl der HIV-Neuinfektionen von 15 auf 484; die Zahl der Kinder Zahl der Kinder mit niedrigem Geburtsgewicht stieg 2008-2010 um 19%. Die Löhne sanken 2008-2013 um 31%; die ärmsten Haushalte verloren 86% ihrer Einkommen, die reichsten 17%. Jeder dritte griechische Haushalt wies 2012 ein Jahreseinkommen unter 7.000  auf. Wie der Investor und Superreiche Warren Buffett 2003 gesagt hat: "If class warfare is being waged in America, my class is clearly winning.“; und an anderer Stelle konkretisiert: „„Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen.“ Und dies sind die gesellschaftlichen Kosten. 

 

Was geschieht ist freilich nur scheinbar absurd. Denn die politische Dienstklasse weiß !), dass Politik der Austerität nicht funktionieren kann. Sie weiß (!) welche Verteilungswirkungen diese Politik hatte und hat. Sie weiß (!), dass die angebliche Rettung der Griechischen Finanzen die Rettung der Deutschen und Französischen Banken meint. Es geht also darum, der Europäischen Öffentlichkeit und den eingeschüchterten WählerInnen gegenüber eine "non-evidence based"-Policy mit allen Mitteln durchzusetzen, damit die von den Plutokraten eingeforderten Verwertungsbedingungen des Finanzkapitals aufrecht erhalten werden. Dies geschieht in endlosen Wiederholungen ebenso dummer wie substanzloser Stereotype über faule Griechen, Arbeitslose, Minderleister und Sozialschmarotzer in den medialen Blödmaschinen.

 

Demgegenüber ist festzuhalten, dass nicht die arbeitenden Menschen, sondern die institutonellen Anleger mit ihrer staatlich sanktionierten "Zocker"-Strategie die Finanzkrise ausgelöst haben; dass politische Dienstklasse die Banken ohne Not sondern aus korrupter Gier, falscher Loyalität und politischer Dummheit gerettet hat. Auch in Griechenland haben nicht Politiker der SYRIZA die Griechischen Schulden produziert, sondern eine Kamarilla aus NEA DEMOKRATIA und PASOK, die nicht nur sich und ihre Klientelen sondern auch Deutsche Rüstungsexporteure bedient hat. Es sind nicht die kleinen Leute, die über ihre Verhältnisse gelebt haben, sondern die Oberschicht und die ihr assoziierten Mittelschichten. Und es sind die Europäischen Banken, welche zumindest 350 Mrd des unversteuerten Einkommens und Vermögens der asozialen Griechischen Reichen "in Sicherheit" gebracht haben. 

 

Die Gesellschaften der EU taumeln am Abgrund. Denn hinter den Gesellschaften ´im freien Fall` (Griechenland, Spanien, Portugal, Irland) drohen noch Austrittsszenarien (England), Ausschlussszenarien (Ungarn) sowie ökonomische Implosionen (Italien). Der Eurobarometer 09/2014 zeigt 44% Ablehnung des Euro, 46% „totale Pessimisten“ im Rahmen der Einschätzung der EU, 53% der Bürger, die sich in der EU politisch nicht vertreten fühlen; einigen Mitgliedsstaaten erreichen die Ablehnungsquoten mehr als 70%.

 

Deutschland hat mit seiner Standort- und Niedriglohnpolitik die Europäische Schuldenkrise vertieft. Realwirtschaftliches Wachstum wird erst dann entstehen, wenn der Deutsche Handelsbilanzüberschuss drastisch zurückgefahren wird und sich die Löhne in Deutschland massiv erhöht haben. Andernfalls wird sich Griechenland als die Speerspitze einer totalitären, antidemokratischen Entwicklung in einer ganzen Reihe von Europäischen Ländern zu Lasten der abhängig Beschäftigten erweisen, also all derer, die nichts anderes zu verkaufen haben als ihre Arbeitskraft. 

 

 

Entweder diese EU gründet sich neu als eine EU der Gesellschaften, die auf sozialem Zusammenhalt gründen, oder sie wird untergehen. Sowohl über das „Ob“ als auch über das „Wie“ wird im sozialen Konflikt zu entscheiden sein. Die Abstimmung in Griechenland am 5.7.2015 hat deutlich gemacht, dass das hegemoniale Elitenprojekt der EU nicht mehr mit dem „affirmativen Konsens“ der Regierten rechnen kann. Es sei daran erinnert, dass in jenen beiden Malen (2005), wo die Politik den Souverän gefragt hat, ob er eine neoliberale Verfassung der EU befürwortet (Frankreich, Niederlande), das Votum negativ war. Die Signalwirkung der Griechischen Entscheidung nach 35 Jahren neoliberaler Politik und 25 Jahren Maastricht-Vertrag für die Spanischen Parlamentswahlen 2015, das Referendum über den Verbleib in den EU in England 2017 aber auch die Widerstandsbewegungen in Portugal, Italien und Irland sind enorm. Dass die EU in eine Dynamik des politischen Zerfalls, der ökonomischen Depression, der Stagnation oder Stagflation oder eines autoritären Polizei-  und Überwachungsstaates einmündet ist offen.Noch immer sind es die demokratischen Gesellschaften und nicht bloß die ökonomischen und politischen Funktionseliten, die Geschichte machen.

 

Rien ne va plus. Das Ende der Entwicklungsoffenheit ?

2013

 

Keine Entwarnung. Nur vordergründig misslungen ist das Vorhaben der Bundesregierung, das Budgetdefizit mit einer verfassungsrechtlich verankerten Schuldenbremse zu deckeln. Denn: Spindelmann/Fayegger bereiten einen zweiten Anlauf vor. Einstweilen riegelt eine einfachgesetzliche Schuldenbremse im Bundeshaushaltsgesetz das zulässige strukturelle Defizit ab 2017 mit 0,35% nach oben hin ab.

 

Und schon dies ist eine harte Bandage. Nachdem willfährige politische Eliten Banken, Vermögenden und Shareholdern die Schäfchen ins Trockene getragen und mit 36 Mrd die Banken aus ihrer Zockermalaise befreit haben, muss der begehrlichen Plebs - jenen 43% der NiedrigverdienerInnen, atypisch Beschäftigten und Working Poor, die vor Pensionsbezug und Sozialleistung armutsgefährdet sind - haushalterischer Mores gelehrt werden. Und das geht unter den refeudalisierten Bedingungen der dieses Land kennzeichnenden „gemütlichen Repression“ eben nicht wie bei Carl Schmitt mit einem Ausnahmezustand. Vielmehr reicht es der „Blödmaschine Politik“ (Metz/Seeßlen) hierzulande hin, das Diktat der Finanzmärkte und den Status quo des Steuersystems – keine Besteuerung von Vermögen, Großgrundbesitz, Erbschaften oder Schenkungen - als unhintergehbaren Sachzwang darzustellen, während die sozial-riskante Einkommensungleichheit deutlich zunimmt. Wohin aber geht die Reise, wenn diese fortgesetzte Verteilung von unten nach oben Eingang in die Verfassung findet ?

 

Radikale Greißler

Vorweg muss erstaunen, dass Vertreter der Verfassungsrechtslehre wie auch der Regierungs-Parteien allenfalls die Signalwirkungen, aber nicht die Systemwirkungen der Bremse erörtern wollen. Es sei daran erinnert, dass – abgesehen vom Notstands- und Bürgerkriegsfall - die Entwicklungsoffenheit der Verfassung Garant dafür sein soll, auch künftig demokratisch legitimierte gesellschaftliche Selbstbestimmung zu ermöglichen. Und zugleich soll sie den Gesetzgeber in den Stand versetzen, künftige Problemlagen mit den dann erforderlichen und möglichen Maßnahmen und Instrumenten zu bewältigen. Sie soll damit gleichsam -  einem Diktum Gustav Radbruchs folgend - klüger als der gerade waltende Gesetzgeber sein, der gerade mal bis zu einem Wahltermin oder seinem Pensionsantritt denken mag. Hans Zacher hat gezeigt, dass Verfassungsnormen wesenhaft entwicklungsoffen sein müssen, da sie ansonsten in einen unüberbrückbaren Widerspruch zu dynamischen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen geraten. Eine Verfassung gibt Regeln vor, wie Interessenkonflikte ausgetragen werden; nicht aber die Inhalte dieser Auseinandersetzungen. Eben das geschieht hier, wenn mit dem Habitus radikaler Greißler der Staat wie ein Privathaushalt geführt werden soll.

Ende der Demokratie ?

Dass nun ein Vize und sein Bundeskanzler die Verfassung ändern wollen, um den „Fängen der Finanzmärkte“, welche eben diese politischen Eliten eigenhändig entfesselt haben, zu entrinnen, ist so grotesk, marktfundamentalistisch wie demokratiepolitisch dumm. Eine derartige Selbstbindung ist grotesk, weil sie einer Selbstentmündigung  der politischen Klasse gleichkommt. Sie ist marktfundamentalistisch, weil sie den substantiellen Unterschied zwischen einem Staatshaushalt und einem Privathaushalt verkennt oder ignoriert. Sie schreibt eine bestimmte, partikularen Interessen Rechnung tragende Wirtschaftspolitik als einzig mögliche fest. Und sie ist demokratiepolitisch dumm, weil sie einen zentralen Funktionsbestandteil der Demokratie, nämlich die deliberative Entscheidung des Souveräns über den künftigen gesellschaftlichen Zusammenhalt, soziale Integration und Inklusion, an einen Mechanismus bindet, über den nicht verfügt werden kann. Wozu noch wählen, wenn wirtschaftspolitische Handlungsspielräume von einem Kalkulationsprogramm, Aufsichtsräten oder Rating-Agenturen vorgegeben werden ?

Davon abgesehen kann so eine Bremse auch gar nicht funktionieren. Klar ist ohnehin: wenn man einen ausgeglichenen Haushalt deckelt, verhindert man, dass der Staat in konjunkturellen Abwärtsbewegungen den Nachfrageausfall der Privathaushalte und Unternehmen kompensieren kann. Man schafft oder verstetigt also die Krise, die man bekämpft. Deckelt man die Staatsausgaben mit einem Prozentsatz, kommt freilich noch ein anderes Problem hinzu. Denn das BIP ist kein juristischer Begriffe, sondern eine Kennzahl, deren Komposition gelinde gesagt den Hausverstand beleidigt (steigt die Zahl der Verkehrsunfälle, steigt auch das BIP). Ändern sich die Erfassungsmodi der Statistiker, kann dies zu ökonomisch irrationalen Ausgabenkürzungen zwingen. Bruce Bartlett, vormaliger Chef-Ökonom des IWF, hält daher die Verfassung eben nicht für jenen Ort, in dem Schuldendienste im Budget geregelt werden sollen. Überdies ist der nächste (vierte) Bankenrettungsdurchgang ja schon absehbar. Was also, wenn eine Verfassungsbestimmung in Kraft ist und sich die Staatsausgaben am Limit bewegen und die nächste Zockerrettungsaktion fällig wird ? Dann gibt es nicht nur eine Budget-, sondern auch eine Regulierungs- und Verfassungskrise.

Finanzialisierung der Verfassung

Im Ergebnis produziert die ebenso symbolische wie aktionistische Politik der Bundesregierung Recht mit hohem Boomerang-Impact. Die geplante Bremse wird der Schwerkraft der Ökonomie folgend ziemlich unerfreuliche Folgen haben, nämlich ein Mehr  an Arbeitslosigkeit, Armut, Ausgrenzung und Gewalt. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass getroffene Entscheidungen Pfadabhängigkeiten bewirken. Eine Verfassungsbestimmung ist kein Vereinsstatut, sie hat Vorrang vor einfachen Gesetzen und bindet alle Staatsorgane. Sie bedarf zu ihrer Adaption einer qualifizierten Mehrheit.

 

Was wir im Ergebnis sehen ist eine Finanzialisierung der Verfassung zu Lasten gesellschaftlicher, insbesondere sozialer Interessen. Am Horizont zeichnet sich eine Transformation der Demokratie in Richtung einer kommissarischen Diktatur ab. Schon jetzt wird Europa von einer Aktiengesellschaft, dem Europäischen Stabilitätsmechanismus regiert. Merkozy fordern eine „marktkonforme Demokratie“. Mit Bestemm ist dagegen festzuhalten: die Verfassung ist Grundordnung des Gemeinwesens, und eben nicht Grundordnung der Bankenprofite. Verwandelt sich die Verfassungsentwicklung in das Kalkül eines ebenso opportunistisch wie taktisch agierenden Verfassungsgesetzgebers, so muss sich der Souverän fragen, welches Ausmaß derartiger „Volksvertretung“ eine Gesellschaft aushalten kann.

 

Transferkonto: JA, aber welches ?
2012 

 

Eine eher degoutante Seite der österreichischen Wohlfahrtsstaatsdebatte ist seit jeher jene, dass generalisierende Reformlösungen unter Hinweis auf Einzelfälle argumentiert werden. Eine andere ist, dass sozialpolitische Lösungen symbolischer Natur sind, es also um Politiken des Sentiments und eben nicht um Diskurse und Politiken der Sozialtechnologie geht. Dies war schon so bei den legendären Sozialschmarotzerdebatten der 1990er Jahre so, in denen der Bruder eines Kollegen eines Bekannten aus der Sauna einen Schmarotzer kennt, der „illegal Sozialhilfe bezieht“. Eben das galt als der „Volksmund“, an dem sich die Politik ohne Not, trotzdem aber als Notlösung, orientiert. Und es wiederholt sich jetzt in der von der ÖVP losgetretenen Debatte um die Einführung eines „Transferkontos“. Denn auch hier geht es um den Nachweis von Verteilungsungerechtigkeit im Einzelfall in Form einer unverhältnismäßigen Belastung von ´NettozahlerInnen` zugunsten von ´NettoempfängerInnen` wohlfahrtsstaatlicher Transferleistungen. Kurz: die Leistungsträger zahlen zuviel für die Minderleister. Dabei wird eine radikal „subjektivistische“ Sicht selbst-ästimierter LeistungsträgerInnen eingenommen, die mehr einzahlen als sie herausbekommen. Soziologisch gesehen sind das die vordem meritokratisch-leistungsorientierten mittleren und oberen Mittelschichten, die die Felle ihres Bildungs- und Sozialkapitals davonschwimmen sehen. In diesen Milieus der um ihre Statuspositionen Ringenden fallen die Kosten der Gleichheit aus der Sicht des Einzelnen „natürlich“ höher aus als der abstrakte Nutzen (die „gesellschaftlichen Kosten“ sozialer Ungleichheit werden externalisiert; sie exististieren schlicht nicht im hinterlegten Weltbild). Exekutiert wird dies in der von der ÖVP in Auftrag gegebenen Studie von Franz Prettenthaler am Grazer Joanneum durch eine Betrachtung von Einzelfällen in sorgsam ausgewählten Haushalts-Konstellationen. Deren Auswahl folgt eben nicht dem Gebot der Repräsentativität, sondern demjenigen der gezielten Skandalisierung. Prettenthalers Modellrechnung läuft darauf hinaus, dass Familien mit höherem Bruttoeinkommen durch wegfallende Sozialleistungen in Form einer 100%-Besteuerungsfalle theoretisch weniger Geld zur Verfügung haben könnten als Familien mit geringerem Einkommen. Die Studie zeigt ausgewählte Effekte von Steuern, Sozialabgaben und Sozialtransfers in der Steiermark am Beispiel einer Familie mit zwei Kindern jeweils mit unterschiedlichem Einkommen: Bei einem Bruttohaushaltseinkommen von 950 Euro bessern die Sozialleistungen das verfügbare Monatseinkommen der Familie auf 2.570 Euro netto auf, bei einer Familie mit 1.900 brutto auf 2.990 Euro netto. Bei einem Bruttohaushaltseinkommen von 3.800 Euro bleiben dagegen nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben sowie Zahlung von Transfers nur 3.190 Euro netto. Hierfür wurden Bundes- und Landestransfers, Kinderbetreuungsgeld, Familienbeihilfe, Kinderabsetzbetrag, Wohnbeihilfen, Pendlerbeihilfen uam. berücksichtigt.

 

Nun hält die SPÖ dem die WIFO-Studie (Alois Guger et.al.) „Umverteilung im Wohlfahrtsstaat“ entgegen, welche in altbewährter Manier die Vorzüge einer hohen Abgabenquote (42%) herausstreicht und dem Staat hohes Umverteilungspotential attestiert. Aufgrund des hohen Anteils an (indirekten) Verbrauchssteuern sowie geringen (fehlenden) Vermögenssteuern allerdings ist die Einkommensbesteuerung ist die Verteilungswirkung des Steuerwesens allerdings eine beschränkte. Der Ausbau universeller Transferleistungen (Kinderbetreuungsgeld) sowie der hohe Anteil von Mindestsicherungselementen (Ausgleichszulage) wirken dem entgegen. Unter Druck gerät das wohlfahrtsstaatliche Umverteilungsziel durch eine steigende Abgabenlast auf den Faktor Arbeit, die Atypisierung der Arbeit (Teilzeit, Arbeitskräfteüberlassung etc.) sinkende bereinigte (Netto)Lohnquote sowie den Anstieg der Einkommensungleichheiten (im Vergleich von Unselbständigen). Die WIFO-Studie zeigt, dass Steuern und Abgaben kaum umverteilend wirken. Während nämlich Besserverdienende mehr Einkommenssteuer zahlen, sind Niedrigverdiener anteilsmäßig stärker durch indirekte Steuern (z.B. Mehrwertsteuer) und Sozialausgaben belastet. Sie geben, dem Engel´´ schen Gesetz folgend, einen größeren Anteil ihres Einkommens für Konsum aus und sind relativ betrachtet durch Sozialabgaben höher belastet. Dieser Schieflage wird durch Umverteilung und Transferflüsse  entgegengewirkt, wo das untere Einkommensdrittel 9% erhält, während das obere Einkommensdrittel 10% verliert. Das untere Drittel hält 14%, das mittlere 29% und das obere Drittel 57% der Markteinkommen. Durch staatlichen Ein- und Zugriff  verschiebt sich das Verhältnis auf 23% zu 30,4% und 46,6%. Je weiter nach unten man kommt, desto höher wird folglich der Anteil der Transfers am Haushaltseinkommen: im unteren Drittel sind es 84%, im mittleren Drittel 30% und im oberen Drittel nur mehr 12%.

 

So berechtigt die Anliegen, so kurz der politische Gedanke. Denn wie Prettenthaler recht hat, dass die Intransparenz föderaler Kleinwüchsigkeit zu einem Gewirr ungeplanter Handlungsfolgen und individueller Benachteiligungen führt, so ist das WIFO-Argument wohl nicht von der Hand zu weisen, dass den Verzerrungen eines sukzessive deregulierten Arbeitsmarktes staatlicherseits entgegengewirkt werden muss. „Dekommodifizierung“ hat man das früher mal genannt, also: die Befreiung von (falschen) Marktzwängen.

 

Gleichwohl müssen sich beide Positionen entgegenhalten lassen, dass sie am eigentlichen Problem der Verteilung vorbeigehen. Natürlich muss jeder vernünftige Mensch für ein Transferkonto sein: nur nicht für dieses. Denn ein Transferkonto, auf dem nur „neidbesetzte“ Transfers gelistet werden, ist weder transparent noch (leistungs)gerecht). Wenn schon ein Transferkonto, dann soll es ein Einkommen- und Transferkonto sein, auf dem sämtliche Einkommen und Transfers zusammenfließen und einheitlich besteuert werden. Damit würde die Familienbeihilfe des Generaldirektors besteuert, jene der alleinerziehenden teilzeitbeschäftigten Mutter eben nicht. Einkommen sind Erwerbs-, Tranfers- und Renteneinkommen, also auch Pachterträge, Aktienerträgnisse, Spekulationsgewinne usw. Erst dann ist ein besteuerter Euro ein gerecht besteuerter Euro, wenn er, egal von wem er verdient ist und woher er kommt, gleich besteuert wird. Wenn schon ein Transferkonto, dann soll es ein individuelles Transferkonto sein, auf dem die Existenzsicherung wie der Solidarbeitrag jedes/r Einzelnen (und damit auch: eines Kindes) offengelegt wird.

 

Einen besteuerungspolitisch eingetrübten Fleck weist zugleich auch die Rezeption der WIFO-Studie durch die SPÖ auf. Denn was hier verglichen wird, sind die Transfers, Einkommen, Abgaben und Steuern von unselbständig Beschäftigten. Und gerade darin spiegelt sich das Problem, dass die Besteuerungsdebatte gleichsam im „falschen Pool“ geführt wird, nämlich unter Ausblendung eben Vermögens- und Spekulationeinkommen, die seitens der SPÖ als „besserer Partei der Kapitalismusverwaltung“ sakrosankt gestellt werden.

 

In der Tat muss man die Prettenthaler-Joanneum-Studie eben nicht also ökonomische, sondern als soziologische lesen, nämlich als Wehklagen jener Teile der Mittelschicht, die unter Wucht der Prekarisierungs- und Atypisierungsprozesse, angesichts steigender Ungleichheit und erwerbsbiographischer Unsicherheit gegen das soziale Abrutschen kämpfen. Unausweichlich Teil der ideologischen Auseinandersetzung ist, dass die ÖVP hierbei verschiedene Gruppen von ModernisierungsverliererInnen gegeneinander antreten lassen will. Erstaunlicherweise kann sich die SPÖ in einer Art Denkblockade weder an den historischen Satz „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ entsinnen noch daran, dass noch bis vor wenigen Jahren die Vergesellschaftung der Produktionsmittel im Parteiprogramm gestanden hat. Vielleicht könnte man zwischenzeitig ja einmal mit einer Vergesellschaftung der Spekulationsmittel oder zumindest mit deren Besteuerung beginnen. 

 

 

 

Die Inszenierung des Europäischen in der Provinz des Nationalstaates

2006

 

I. Einleitung

„Wir sind Präsident“, titelten einige Tageszeitungen zu Beginn der  österreichischen Ratspräsidentschaft. Sie entblößten damit unfreiwillig das ideologische Gestell, welches die im internationalen Vergleich unerreicht hohe Unzufriedenheit der ÖsterreicherInnen mit der EU trägt. Nach wie vor ist die Debatte seitens der EU-Gegner um deren Vertiefung und Erweiterung von einer profunden Unkenntnis der Institutionen und Verfahren eben jener Union geprägt. Und wie bei jeder ideologischen Attitüde reicht nun ein mit größenwahnsinnigem Charme vorgetragenes Gerücht, um die kollektiven Gefühle kippen zu lassen. Inhalt des Gerüchtes ist es, Österreich werde die EU aus jener Krise führen, in welche sie sich nach einem gescheiterten Verfassungskonvent, nach einer in ihren Folgewirkungen undurchdachten Osterweiterung und einer abgründigen Debatte um den Beitritt der islamischen Türkei manövriert hat. Worauf in diesem halben Jahr der Präsidentschaft indes tatsächlich gesetzt wird, ist eine Melange aus Wiener Schmäh und Kaffeehausatmosphäre, Volksliedgut und alpiner Gemütlichkeit, hinter der sich erbarmungslose Umsetzungsvorhaben in den Bereichen Steueraufkommen, Umverteilung und Arbeitsmarkt verbergen.

 

Im Staatsfunk/fernsehen erscheinen die österreichischen Politikeliten auf dem europäischen Parkett nachgerade als Vorzeigeeuropäer, wenn es um den neoliberalen Paradigmenwechsel des Lissabon-Prozesses in Richtung verstärkten Wirtschaftswachstums und (sozial riskant deregulierter) Beschäftigung geht. Das fällt ihnen relativ leicht. Denn die EU tut im Großen, was ohnehin Grundkonsens der Bundesregierung seit 2000 im hiesigen Kleinen ist. Es geht einerseits um ein „Rollback“ des leistenden und eingreifend gestaltenden Staates. Privatisierung, Entstaatlichung und Umverteilung ´nach oben` lauten die Paradigmen dieser Politik. Andererseits geht es um einen Paradigmenwechsel der Migrationspolitik, der sich im Zusammenbruch des französischen Integrationsmodells spiegelt. Als ideolologisches Gleitfett dieser Politik fungiert innerstaatlich eine Betonung der Nation und ihrer gemeinschaftsstiftenden Symboliken. Auf supranationaler Ebene spricht man einer christlich-wertorientierten Abgrenzung der EU gegenüber der islamischen Bedrohung das Wort. Durchaus folgerichtig ist von dieser österreichischen Präsidentschaft kein Impuls zum Wandel des herrschenden europäischen Grundkonsenses zu erwarten.

 

Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass die Präsidentschaft auch zu einer Neugewichtung der europäischen Politik auf nationaler Ebene geführt hat. Dieselbe Regierung, welche im Sog der EU-Sanktionen des Jahres 2000 noch einen medialen Diskurs über den nationalen Bestemm der Österreicher einschließlich eines allfälligen Austrittes aus derselben lancierte, putzt sich nun als politische Klasse von „Edeleuropäern“ heraus. Durchaus erfolgreich hat diese  Selbstinszenierung der österreichischen Bundesregierung den Alltagsanschauungen der drögen Fernsehkonsumenten einen neuen „spin“ verpasst. Und tatsächlich verstummte die eingeübte Stammtischkritik an der EU (Blutschokolade) ebenso wie jene an der undemokratischen Verfasstheit oder an der radikal neoliberalen Wettbewerbs- und Beschäftigungspolitik der EU zumindest vorübergehend bis an die Grenze der Unhörbarkeit. Der schon zur Gewohnheit gewordene mürrische Unwille des Souveräns, als Nettozahler die gewähnte Verschleuderung von Steuergeldern durch einen monströsen Kommissionsapparat nicht mehr hinnehmen zu wollen kippte in schier biedermeierliche Erwartungshaltungen an die halbjährige Präsidentschaft im Ministerrat. Die Sanktionen sind vorbei, wir sind wieder wer.

 

II. Politische Inszenierung

Natürlich verkörpert die mediale Selbstinszenierung der politischen Eliten im Zuge der Ratspräsidentschaft keine neue Qualität. Nach wie vor sind die Spin-Doktoren am Werk, die Körpersprache, Aktentaschenhandhabung, Kleidung, Frisur, Vokabular und Gestus vorgeben bzw. antrainieren. Nichts davon ist „echt“ im Sinne persönlicher Authentizität. Indes besteht das Paradox der Inszenierung darin, mit Techniken medialer Projektion (Täuschung) den Anschein von Authentizität und Vertrauenswürdigkeit zu vermitteln. Inszenierung geht also schlüssig mit einer Personalisierung der Politik einher. Nicht programmatische Aussagen, sondern Personen stehen für Inhalte. Persönliche Sympathiewerte stehen folglich vor ideologischer Positionierung. Diese mediale Selbstinszenierung ist durchaus als hierarchische Kommunikation zu verstehen. In ihr geht es um Sehen und Gesehen-Werden, um eine Asymmetrie der Sichtbarkeit und Wahrnehmung. Die Eliten werden gesehen. Die dröge Masse der WählerInnen akklamiert oder bleibt fern.

 

Wichtig an dieser Inszenierung von Politik als einem Ausdrucksmuster der politischen Kultur ist ihre (multi)mediale Präsentation von Rollen (Vater/Mutter) und Symbolen (Macht/Disziplinierung). Dabei kann auf Erfahrungen aus der Welt des Theaters (Film, TV) zurückgegriffen werden. So entsteht zwischen Politik und Medien eine Symbiose. Hier wird Öffentlichkeit und Definitionsmacht im Austausch gegen Information geboten. Es wird Raum für politische Selbstinszenierung offeriert als Gegenleistung für die Exklusivität der Information. Den einen bringt diese Inszenierung eine Erhöhung ihres Bekanntheitsgrades, den anderen Steigerungen der Reichweite und Einschaltquote.

 

III. Die Inszenierung des Europäischen

Augenfällig ist, dass „Europa“ hierzulande wiederholt als Projektionsfläche genutzt wurde, um dem supranationalen System Schuld an Blockaden innenpolitischer Reformprozesse zu geben (Transit, Hochschulzugang, Gentechnikfreisetzung etc.). Wobei allzu gern vergessen wird, dass 90% des Arbeits- und Sozialrechts einschließlich des überwölbenden Zivilrechts ausschließlich nationaler Herkunft ist. Einmal ganz abgesehen davon, dass jene Fälle, in denen zuletzt europäische Institutionen wie der EuGH auf das österreichische innenpolitische Geschehen massiv Einfluss genommen haben, überwiegend auf die fehlende Entscheidungsvorbereitung der politischen Eliten zurückzuführen war.

 

Die gegenwärtige Inszenierung des Europäischen in der Innenpolitik folgt im Wesentlichen drei Motivlagen. Da ist zum ersten darauf hinzuweisen, dass die Politik der EU mit der Realisierung der wirtschafts- und sozialpolitischen Zielsetzungen der Volkspartei durchaus kompatibel ist. Das spiegelt sich sowohl in der Normsetzungstätigkeit („offene Koordination“ statt Normsetzung im Bereich Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik) der EU als auch in ihren Budgets (das Budget des Europäischen Sozialfonds verkörpert gegenüber dem Agrarbudget eine Marginalie). Zum zweiten dient sie der wahltaktischen Ablenkung vom vorliegenden Zwischenergebnis des jahrelangen Sozialabbaus, der Postenschacherei und der schier endlos wähnenden Skandale (Ministerium Gehrer) am Vorabend der heißen Phase des Nationalratswahlkampfes 2006. Zum dritten bietet eine Ratspräsidentschaft natürlich erweiterte Chancen zur Selbstdarstellung auf den Bildschirmen der Innenpolitik (Präsenzsekunden im ZIB).

 

Die Pointe daran ist, dass diese Inszenierung im Wesentlichen davon lebt, dass die ÖsterreicherInnen offenkundig nicht wissen, wie die EU funktioniert. Bedeutet ´Ratsvorsitz` doch bloß die Leitung der jeweiligen Ministeratssitzungen sowie die Koordination der Zusammenarbeit mit Kommission und Parlament. Faktisch kann dieser Ministerrat aufgrund des Intitiativmonopols der Kommission ohnehin kein Gesetzgebungsverfahren initiieren. Und die meisten Agenden der ersten Säule sind zudem im Mitentscheidungsverfahren abzuwickeln, in dem der Ministerrat keine Entscheidung ohne das Parlament herbeiführen kann. „Wie gut, dass niemand weiß ….“.

 

 

Treffsicherheit : Bedürftigkeit – eine österreichische Fusionsleistung

2004

 

Während sich die EU-Sozialminister auf mehreren Ebenen seit den Konferenzen in Amsterdam und Lissabon einer sozialtechnologischen Arbeitsmarkt-, Qualifizierungs- und sozialen Inklusionspolitik verschrieben haben, orientiert sich die österreichische Sozialpolitik seit dem Februar 2000 an zwei Prinzipien, nämlich 1. dem Grundsatz der Diskontinuität und 2. dem Recycling ebenso abgegriffener wie „stammtisch-gängiger“ Konzepte aus der Mottenkiste des vulgären Liberalismus. Beides spiegelt sich in einer grotesken Treffsicherheitsdebatte, in der seit dem April dieses Jahres zwischen dem Sozial- und Wirtschaftsministerium ebenso unbekümmert wie unbedarft darüber räsoniert wird, wie zu machen sei, daß Sozialleistungen hinkünftig nur noch denjenigen zugute kommen sollen, die selbige auch „wirklich brauchen“. Einmal ideologisch adjustiert wird dann munter drauf los schwadroniert, wie man bei Sozialversicherungs-, Fürsorge- und Versorgungsleistungen von Bund und Ländern sicherstellen kann, daß nur „wirklich Bedürftige“ Adressat sozialer Inklusionsleistungen sein sollen. Am 15.6. soll ein erster Zwischenbericht paraphiert werden.

 

Bezeichnend, daß hierbei nicht darauf bezug genommen wird, daß seit Mitte der 80er Jahre eine Unzahl von sozialwissenschaftlichen Studien zu Armut und Unterversorgung ein ums andere Mal den Beweis geführt haben, daß nicht die Überversorgung nach dem „Gießkannenprinzip“, sondern verfestigte soziale Abstiegserfahrungen den „zivilisatorischen Grundkonsens“ (Michael Thaler) der österreichischen Gesellschaft bedrohen. Kein Hinweis etwa darauf, daß nicht der Mißbrauch in Höhe von 1,5% der Antragsteller offener Sozialhilfe, sondern ganz im Gegenteil die Nichtinanspruchnahme von Rechtsansprüchen auf den Lebensbedarf sichernde Leistungen im Ausmaß von 90% der potentiell Anspruchsberechtigten (Daten 1997: 32.600 Personen als einmalige und laufende Bezieher offener Sozialhilfe im Verhältnis zu 440.000 armen, nicht bloß: armutsgefährdeten Personen) die zentrale Herausforderung an eine Politik der Armutsvermeidung darstellt. Keine Rede davon, daß die mittlere Notstandshilfeleistung für Frauen 1998 gerade einmal 6.395.- ATS erreichte. Keine Erwähnung des Faktums, daß der Nettoaufwand der Richtsatzleistungen und einmaligen Aushilfen im Bereich der offenen Sozialhilfe 1997 0,9 Mrd ATS erreichte. Auf diese Weise enthüllt das Gerede über „Treffsicherheit“ vor allem das sozial-riskante Unwissen politischer Eliten.

 

Daneben verdient aber auch schon der Begriff der „Treffsicherheit“ genauere Betrachtung, alleine schon deshalb, weil er in der gewählten Beliebigkeit seiner Verwendung die Assoziation einer sozial- und wohlfahrtsstaatlichen Ballistik wachruft, worin der Sozialstaat die als Klientel verkleideten Gegner (Sozialschmarotzer, Trittbrettfahrer) auch unter Inkaufnahme von Kollateralschäden unter Beschuß nimmt. Die thematische Verschränkung von staatlicher „Treffsicherheit“ und subjektiver „Bedürftigkeit“ dient indes augenfällig einem ideologischen Zweck. Denn sie postuliert ein radikal-gewandeltes Verhältnis zwischen Staat und Zivilgesellschaft, ohne nach den sozialen Bindungen und Ressourcen Rücksicht zu nehmen. Sie tut so, als ob eine der Herrschaft des Rechts unterworfene Balance zwischen Staat und Staatsbürger nicht die Verpflichtung des Staates voraussetzt, die existentiellen Grundlagen des politischen Abstimmungs- und Beteiligungsverhaltens seiner Bürger sicherzustellen. Politische Demokratie ist aber ohne individuell durchsetzbare Rechte auf soziale Inklusion letztlich nicht möglich, was sich trefflich bei Ernst Forsthoff, dem Doyen der deutschen Staatsrechtslehre, nachlesen läßt.

 

Was mit dem Begriff der „Treffsicherheit“ gelingen soll, ist, so scheint es, eine Remoralisierung des Codes sozialer Sicherheit, die sich vor allem gut im Gewande unbestimmter Rechts- und Ermessensbegriffe applizieren läßt. Soziale Sicherung sollen nur ehrliche Arme erfahren, die sich sodann als redliche Empfänger öffentlicher Hilfe zu den „anständigen Leuten“ zählen dürfen. Der Begriff dient als Hebel zu einer tiefgreifenden Polarisierung zwischen „guten“ (moralisch-integren) und „schlechten“ (unmoralischen) sozialen Risiken. Er scheidet die jüngeren, sozial-auffälligen, fordernd-renitenten, längere Zeit über Arbeitslosen von den älteren, sich regelkonform verhaltenden, in Bittstellerhaltung eingeübten, denen man schlecht „Arbeitsscheu“ vorwerfen kann.

 

Das „Treffsicherheit-Bedürftigkeit“-Konzept ermöglicht es dem wohlfahrtsstaatlichen Apparat, seine Klientel nach dem Grad ihrer prognostischen Wiedereingliederungsfähigkeit, nach ihrer Selbstdisziplinierungs- bzw Unterwerfungsbereitschaft zu selektieren. Es ermöglicht eine zielgruppenbezogene Re-Moralisierung von Risiken, insbesondere den Vorwurf des Selbstverschuldens von Armut, zugleich aber auch die Ökonomisierung von Leistungskalkülen im Rahmen der sozial- und wohlfahrtsstaatlichen Leistungserbringung.

 

 

Im Ergebnis verschmilzt hier der neoliberale „never give a sucker an even break“ - Habitus mit grotesken Zwangsvorstellungen über den Sozialparasiten, vordem in Gestalt des unehrlichen Juden, jetzt entweder in Gestalt des schamlosen Ausländers oder des arbeitslos gemeldeten arbeitsscheuen „Tachinierers“. Darin spiegelt sich nicht zuletzt auch das Drama der emotionalen Verwahrlosung fachlich überforderter macchiavellistischer Laienspieler, die vorgeben, einmal an die Macht gekommen, „ausmisten“ zu wollen, dabei selbst aber nicht viel mehr als konzeptiven Müll produzieren.

Download
Kommunale Sozialplanung.pages.zip
Komprimiertes Archiv im ZIP Format 373.1 KB